DAS GRAS WAcHSEN HÖREN

WENN ERFAHRUNG STATT ALTER ZÄHLT


… wer diese Redewendung von sich gibt, der hat meist einen mehr oder wenig deutlichen, spöttischen Unterton in der Stimme. Du hörst ja das Gras wachsen! – will sagen: Du interpretiert wohl ein bisschen viel in ’ne bestimmte Sache rein und bildest dir deshalb ein, klarer zu sehen, mehr zu wissen, als andere. Andere, die da partout nichts vernehmen können. Andere, die die Wachstumsgeräuschevernehmer für etwas überdreht und auch leicht hysterisch halten.

Dabei hat dieser Ausspruch einen historischen Hintergrund, der nicht im mindesten so etwas Niederes wie Spott beinhaltete. Er geht zurück auf die Edda, eine skandinavische Götter- und Heldensaga aus dem 13. Jahrhundert. Ein Herr namens Heimdall hatte in diesem Sagenkonstrukt eine äußerst verantwortungsvolle Position inne, die viel Fingerspitzengefühl, aber auch einen sechsten Sinn erforderte. Als Wächter der Götter hatte Heimdall dafür zu sorgen, dass der Laden lief, musste das aber so hundertprozentig sicher im Griff haben, dass er seine Aufgabe unauffällig, ja sogar unerkannt erledigen konnte. Denn schließlich waren die Götter diejenigen, die aufgrund ihrer Stellung davon ausgingen, dieses Herrenwissen sei einzig und allein ihre Domäne. So reagierten sie sehr empfindlich, wenn ein Lakai wie Heimdall sich erdreistete, sich kenntnistechnisch auf eine Stufe mit ihnen, den divinen Checkern stellen zu wollen.
Heimdall jedoch war ein feinfühliges und smartes Kerlchen. Ihm ging es nicht um Machtdemonstrationen, hierarchische Streitigkeiten langweilen ihn, denn er wusste nur zu gut, WER die Fäden tatsächlich in der Hand hielt. Und sein einziges Bestreben war, den Laden am Laufen zu halten.

Nun, er hätte diesen Sachverhalt wahrscheinlich weniger salopp umschrieben, doch inhaltlich stimmte er damit sicher voll und ganz überein. Aber wie nun hat er diese seine so unterschätzte Aufgabe derart bravourös erfüllt? Ganz einfach: man sagte ihm nach, er besitze die Fähigkeit, das Gras auf der Erde und die Wolle auf den ebenfalls dort stationierten Schafen wachsen zu hören. Sicher war das auch damals schon eine Aussage, die man nicht wortwörtlich meinte, sondern die das umschrieb, was sein wahres Können darstellte. Nämlich eine Feinfühligkeit zu besitzen, die ihm dabei half, bestimmte Entwicklungen anhand kleiner, aber unübersehbarer Anzeichen so rechtzeitig zu erkennen, dass er gegensteuern konnte, bevor sich das daraus resultierende Ungemach manifestieren und die heile Welt seiner göttlichen Vorgesetzten in Unordnung bringen hätte können.

Diese Feinfühligkeit wiederum war wahrscheinlich in Grundzügen seinen angeborenen Fähigkeiten zuzuschreiben, doch er musste sie im Laufe seiner langen Tätigkeit für das Göttervolk auch ausgebaut und verfeinert haben. Ausgebaut und verfeinert mithilfe jahrzehntelanger Erfahrungen, die er sammelte, einen Nutzen daraus zog und deshalb – und nur deshalb – seinen Job so herausragend machen konnte.

Was sich in diesem Zusammenhang meiner Kenntnis entzieht: gab es damals schon so etwas wie einen wohlverdienten Ruhestand? Was wäre geschehen, wäre Heimdall in Rente gegangen und man hätte ob dieser Tatsache, die zunächst sicher recht emotionslos hingenommen worden wäre, einen neuen Wächter rekrutieren müssen? Hätte man da, als Gott, der ja unsterblich und somit scheinbar alterslos ist, nach einem Jüngling gesucht, um frischen Wind in Sachen Wächtersposten reinzubringen? Natürlich einen Jüngling, der moderate Forderungen hinsichtlich seines Entgelts stellt, der noch formbar ist und, natürlich, trotzdem schon ausreichend Berufserfahrung in anderen Götter- und Heldenverbänden hatte sammeln können. Oder hätte man erkannt, was man am alten Heimdall tatsächlich gehabt hatte, und deshalb auf eine erfahrene Security-Fachkraft gesetzt?

Wir werden es nie erfahren, doch immerhin wissen wir nun, woher die Redewendung vom leise lärmend wachsenden Gras kommt. Was ja auch der Grund meines Beitrags war – es ist schließlich immer gut, über Hintergründe Bescheid zu wissen. Und zu sehen, dass sogar so olle Kamellen wie Götter- und Heldengeschichten nie an Aktualität verlieren. Ein Wissen, das verhindern kann, dass einem eventuell mal etwas Wertvolles durch die Lappen geht. Apropos: auch die Redewendung „durch die Lappen gehen“ hat einen ganz bestimmten Ursprung. Dazu aber vielleicht beim nächsten Mal. Wissen macht ja immerhin sexy – und wir wollen es damit besser nicht unbotmäßig übertreiben…

BARBARA Written by:

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